Das erste Heft der neuen Schriftenreihe «Von der Aufgabe, auf der Seite des Lebens zu stehen» kann nun bestellt werden. Wir haben es uns mit dieser Schriftenreihe zur Aufgabe gemacht, Beiträge zur Humanität im Gesundheitswesen zu publizieren, um damit die Integration von Wissenschaft und Humanität zu stärken – wie es Karl Jaspers beschreibt. (…)
In unserer gegenwärtigen Epoche drohen Selbstverständnis und Identität der Medizin durch übergeordnetes Gewinn maximierendes ökonomisches Denken untergraben zu werden. Das Gesundheitswesen soll wie eine industrielle (Massen)Produktion nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage gesteuert; «Effizienz» und «Qualität» der «Gesundheitsproduktion  sollen nach finanziellem Nutzen bewertet werden.
Wir erleben, wie dadurch die der Medizin eigenen Werte geradezu auf den Kopf gestellt werden. Denn neben den Naturwissenschaften ist die Humanität – sowohl in der Haltung des Helfenwollens als auch in der Reflexion der Erkenntnisse der Humanwissenschaften – der zweite der beiden Pfeiler, auf denen unserer Wissenschaft ruht. Ohne Humanität droht die angewandte Naturwissenschaft seelenlos zu werden. Eine zweite Herausforderung unserer Zeit ist das Untergraben des Lebensschutzes durch die Diskussion um «Euthanasie» und assistierten Suizid. Dieses Thema hat die Hippokratische Gesellschaft Schweiz seit ihrer Gründung bewegt und soll erstes Thema unserer Schriftenreihe sein.

In der vorliegenden Ausgabe unserer Schriftenreihe erörtern Moritz Nestor, Philosoph und Psychologe, und seine Frau Karen Nestor, Onkologin und Palliativmedizinerin, was die Aufgabe von Arzt, Mitmensch und Gesellschaft angesichts seelischer Not am Lebensende ist. Welche Art von Beistand ist gefordert? Wie begegnet ein Mensch einem anderen, der den Wert seines Lebens (selbst) als wertlos beurteilt?

Karen Nestor klärt den schillernden Begriff «Sterbehilfe» und legt unter anderem dar, warum in der Schweiz die Beihilfe zum Suizid nicht «erlaubt» ist und warum auch kein rechtlicher Anspruch darauf besteht. Als Palliativmedizinerin und Onkologin schöpft sie aus vielfältigen Erfahrungen in der Begleitung von Menschen mit schwersten Leiden und Nöten. Sie zeigt auf, dass der Suizidwunsch ein Ausdruck menschlicher Not ist und uns als Mitmenschen in die Verantwortung nimmt. Was braucht es, um Mut und Hoffnung zu behalten bis zuletzt?

In seinem Jubiläumsvortrag zum 20jährigen Bestehen der Hippokratischen Gesellschaft Schweiz legt Moritz Nestor eindringlich dar, welche Auswirkung das öffentliche Reden über das Töten von leidenden Menschen hat. Ausgehend vom Wesen des Arztberufs beschreibt er die menschliche Not des Suizidalen, der auf die Hilfe und den Beistand seiner Mitmenschen angewiesen ist. Vor allem der alte Mensch, der seine Bedeutung oft nicht genügend wahrnimmt, ist anfällig für Beiträge der Medien, die ein Leben mit Einschränkungen als nicht lebenswert suggerieren.
«Wir Menschen», schreibt Moritz Nestor, «verdanken der Generation unserer Eltern und Grosseltern unser Leben, das sie uns geschenkt haben. Durch ihre Hilfe und Sorge konnten wir Mensch werden. […] Dieser unsichtbare Vertrag bindet die Generationen natürlicherweise aneinander. Er bildet den Kern unserer Sozialnatur. Wie uns damals als Kindern, so steht der alten Generation heute der gleiche volle Einsatz und die gleiche liebevolle Sorge zu, wie wir sie einst von ihnen gerne empfangen haben. Das ist das natürliche Recht der alt gewordenen Elterngeneration.» Darf also ein demokratischer Rechtsstaat überhaupt den Schutz des Lebens antasten, wo doch der Lebensschutz den Staatszweck darstellt?

Karen und Moritz Nestor verdeutlichen in ihren Beiträgen, dass eine «Kultur der gegenseitigen Sorge» dem Menschen entspricht; eine «Kultur des Todes» nicht. Zu einer «Kultur der gegenseitigen Sorge» gehört auch, wieder ein antisuizidales Klima zu schaffen, das Mut macht und Hoffnung weckt auf ein Leben bis zum letzten Atemzug, wie das bereits Erwin Ringel, der bekannte österreichische Suizidforscher, beschrieb. Befassen wir uns wieder mehr damit, wie wir einander und besonders den alten und kranken Menschen in unserer Gesellschaft Sorge tragen
und sie bis zuletzt menschlich und medizinisch sorgfältig und kompetent begleiten können.