2. April 2020

Patientenverfügungen während der Corona-Epidemie

In der Schweiz wird alles unternommen, um in der Corona-Krise die Überlastung der Spitäler zu verhindern. In kürzester Zeit wurden im ganzen Land die Zahl an Betten in Isolationsabteilungen und Intensivstationen vergrössert und die Zahl von Gesundheitspersonal erhöht. Oberstes Ziel ist der Schutz jedes Lebens. Hierzu wird jegliche Energie verwendet und hierzu kann auch jeder im Land mithelfen, wenn er die Regeln, sich und andere zu schützen einhält. Die intensivmedizinischen Kapazitäten sind in der Schweiz aktuell ausreichend[1]. Es gehört aber auch zur Vorsorge, dass sich Fachleute Gedanken zum Umgang mit einer möglichen Ressourcenknappheit machen.

Die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) hat deshalb alle gefährdeten Personen darum gebeten, Patientenverfügungen auszufüllen bzw. zu erneuern für den Fall, dass eine intensivmedizinische Behandlung nötig wird. Diese Bitte um Unterstützung von den durch die COVID19 Pandemie besonders geforderten Intensivmedizinern sollte ernst genommen werden. Leider wird deren Aufruf von einigen dazu benutzt, das umstrittene Modell des advanced care planning (gesundheitliche Vorausplanung für den Zeitpunkt der eigenen Urteilsunfähigkeit)[2] zu bewerben und dessen lebensverneinende Tendenzen in Umlauf zu bringen – in einer Zeit, in der die Kräfte darauf ausgerichtet sind, das Leben aller angesichts der Pandemie zu schützen. Eine tiefergehende inhaltliche Auseinandersetzung mit dem advanced care planning muss warten, bis wieder Kräfte frei sind. Nicht warten können aber konkrete Antworten auf Fragen, die sich im Kontext mit dem Aufruf zum Verfassen von Patientenverfügungen stellen.

 

Aufgrund zahlreicher Anfragen legen wir Ihnen einige grundlegende Gedanken dazu dar:

Wie hilft eine Patientenverfügung dem Intensivmediziner?

In einer Notfallsituation kennen die Ärzte die Patienten oft nicht und können nicht in der erforderlichen Zeit seine Wünsche und Werte in Erfahrung bringen. In der Corona-Krise kann sich dieses Problem nochmals verschärfen. Bei einer Überbelastung des gesamten medizinischen Systems kann wertvolle Zeit verloren gehen, wenn nicht sorgfältig dokumentiert ist, welche Entscheidungen bereits getroffen wurden.

Wie werden Behandlungsentscheidungen getroffen?

Bei der ärztlichen Entscheidung für oder gegen eine Behandlung – das gilt für alle Behandlungen, nicht nur intensivmedizinische – wird zunächst die medizinische Indikation geprüft. Ist diese gegeben, ist der Patientenwille massgeblich. Nur wenn eine medizinische Indikation besteht und der Patient mit einer Behandlung einverstanden ist, wird diese durchgeführt. Wenn ein Patient sich nicht zu einer Behandlung äussern kann, z.B. weil er bewusstlos ist, wird die Patientenverfügung herbeigezogen, um etwas über die Vorstellungen des Patienten zu erfahren. Gibt es keine Patientenverfügung, wird die nächste Bezugsperson nach dem mutmasslichen Willen des Patienten befragt.

Was heisst dies für intensivmedizinische Behandlungen?

Eine intensivmedizinische Behandlung ist belastend und muss medizinisch realistische Aussichten auf Erfolg haben. Es soll ein Gesundheitszustand wieder erreichbar sein, der mehr als nur Leiden oder den baldigen Tod beinhaltet. Eine Einschätzung der Prognose ist nicht einfach. Wenn bereits vor der Behandlung auf der Intensivstation schwere andere Erkrankungen (Komorbiditäten) vorliegen, ist die Prognose schlechter. Ob hohes Alter an sich ein Prognosefaktor ist, bleibt umstritten. Die in höherem Alter häufig bestehenden Komorbiditäten sind aber relevant. In Zweifelsfällen hinsichtlich der zu erwartenden Lebensqualität und des zu erwartenden Behandlungserfolgs einer intensivmedizinischen Behandlung entscheidet der (mutmassliche) Wille des Patienten.

Patientenverfügungen sollten idealerweise mit Unterstützung des Hausarztes oder eines anderen Arztes des Vertrauens erstellt werden, der die individuelle gesundheitliche Situation und die Persönlichkeit des Patienten gut kennt, mit ihm gemeinsam mögliche Komplikationen besprechen und den Patienten unterstützen kann, in diesem Kontext seinen Wünschen und Werten Ausdruck zu verleihen.

Was ist heikel an der derzeitigen Situation um Patientenverfügungen bei Corona-Infektion?

Es darf kein Druck auf Patienten, insbesondere nicht auf vulnerable Gruppen ausgeübt werden, in ihren Patientenverfügungen den Verzicht auf intensivmedizinische Massnahmen festzuhalten. Auch weiterhin gilt: das Erstellen einer Patientenverfügung ist freiwillig, eine Beratung muss realitätsnah und ergebnisoffen erfolgen! Es ist nicht zulässig, dass Ärzte oder Pflegende ihre Patienten zum Verfassen oder Ändern von Patientenverfügungen drängen oder gar versuchen, deren Inhalt zu beeinflussen. Patientenverfügungen sollen Ausdruck der Autonomie des Patienten sein und dessen Wünsche und Werte festhalten.

Die Tonlage, in der in verschiedenen Publikationen das Thema Patientenverfügung bei älteren Patienten angesprochen wird, ist weder zielführend noch human. Fragen wie: was hält sie denn überhaupt noch am Leben etc. suggerieren, dass Lebensmüdigkeit bei älteren Menschen normal sei und aktiv erfragt werden müsse. Das ist unzulässig, schadet dem Vertrauen in die Gesundheitsversorgung und widerspricht den SAMW-Richtlinien zu Intensivmedizinischen Massnahmen und deren Ergänzung zur Triage in der COVID-19-Pandemie, nach denen niemand wegen seines Alters diskriminiert werden darf. Die lebensverneinende Tonlage ist Teil der Bestrebungen zur Legalisierung der Euthanasie und suggeriert „wir sollen sterben wollen“. Dies darf nicht Grundlage für das Verfassen von Patientenverfügungen sein!

Entscheidet sich ein Patient gegen eine intensivmedizinische Behandlung, ist dies nicht mit einem medizinischen Fatalismus gleichzusetzen und heisst nicht, dass auf Abklärungen oder medizinische Behandlungen generell verzichtet werden soll.

Was ist ausserdem noch wichtig?

Nicht zu vergessen ist, dass in einer Patientenverfügung nicht nur ein Verzicht auf intensivmedizinische Massnahmen, sondern auch der explizite Wunsch nach intensivmedizinischen Massnahmen festgehalten werden kann.

Für Patienten, die mit COVID 19 eine schlechte Prognose haben und nicht intensivmedizinisch behandelt werden wollen oder können, sollten palliativmedizinische Behandlungen insbesondere zur Linderung von Atemnot und Angst eingesetzt werden. Auch die menschliche Begleitung sollte möglich sein.

Der beste Schutz für besonders gefährdete Gruppen bleibt der Schutz vor Ansteckung mit dem neuen Coronavirus!

 

[1] Stellungnahme der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin: Prognosestudien während der COVID-19-PandemieBasel, 27. März 2020, https://www.sgi-ssmi.ch/files/Dateiverwaltung/COVID_19/IMSGCVCM_Stellungnahme_COVID-19_Prognosestudien_DE.pdf

[2] https://www.acp-i.org

 

HGS, PV, Corona. 2. April 2020