Weihnachten – das Fest des Friedens
Zeit, sich an das humanitäre Völkerrecht zu erinnern
Weihnachten ist das Fest des Friedens – umso mehr erschüttern uns die Leiden der vielen Menschen an vielen Orten dieser Welt, die vom Krieg betroffen sind, die Tod, Verletzungen, Zerstörung Ihres Lebensraumes, Hunger und Flucht erleiden müssen. Ein Lichtblick war und ist die Schaffung des Humanitären Völkerrechts und die Gründung des Internationalen Roten Kreuzes. Hans Haug beschrieb in seinem Buch „Menschlichkeit für alle. Die Weltbewegung des Roten Kreuzes und des Roten Halbmondes“, das im Henry Dunant Institut erschienen ist, bezüglich der Grundsätze des Roten Kreuzes folgendes:
«Die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung, entstanden aus dem Willen, den Verwundeten der Schlachtfelder unterschiedslos Hilfe zu leisten, bemüht sich in ihrer internationalen und nationalen Tätigkeit, menschliches Leiden überall und jederzeit zu verhüten und zu lindern. Sie ist bestrebt, Leben und Gesundheit zu schützen und der Würde des Menschen Achtung zu verschaffen. Sie fördert gegenseitiges Verständnis, Freundschaft, Zusammenarbeit und einen dauerhaften Frieden unter allen Völkern.» (…)
«Die ‘Menschlichkeit’ ist der Hauptgrundsatz, die Leitidee, der Wesenskern, sie ist die Seele und der Geist der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung. Wollte man die Grundsätze der Bewegung in einem einzigen Prinzip zusammenfassen oder aus einem einzigen Prinzip ableiten, so wäre dieses Prinzip die ‘Menschlichkeit’. Dabei hat das Wort ‘Menschlichkeit’ einen zweifachen Sinn: Es bezeichnet eine Lebens- und Verhaltensweise des Menschen, und es bezeichnet das Ziel, auf das diese Verhaltensweise gerichtet ist, nämlich die menschliche Person, den Menschen als solchen. Die von der ‘Menschlichkeit’ geforderte Verhaltensweise des Menschen gegenüber dem Menschen sind Achtung und Liebe, aus denen der Wille fliesst, den Mitmenschen als einmalige Persönlichkeit anzuerkennen, ihm gut zu sein und Gutes zu erweisen, ihn zu schonen und zu schützen, ihm zu helfen, wenn er Hilfe bedarf.»
Aus: Haug, Hans, Menschlichkeit für alle. Die Weltbewegung des Roten Kreuzes und des Roten Halbmondes., unveränderte Auflage, Institut Henry Dunant, Verlag Paul Haupt Bern, Stuttgart, Wien, 1995
Die Präsidentin des Internationalen Roten Kreuzes IKRK, Mirjana Spoljaric ruft an der Internationalen humanitären Konferenz für die Zivilbevölkerung von Gaza in Paris, am 9. November 2023 zu einer Besinnung auf die Grundsätze des Humanitären Völkerrechts auf:
„Das Leiden in Gaza und in Israel, das wir mitansehen müssen, ist nicht hinnehmbar: der tragische Verlust unzähliger Menschen und von so vielen Kindern. Die Zerstörung des Zuhauses von Menschen. Die tiefgreifenden und wiederholten Traumata. Die Geiseln, die noch immer gefangen gehalten werden, und ihre Familien, die um sie bangen.
Es ist nicht hinnehmbar, daran zu denken, dass diese katastrophale humanitäre Situation schon seit einem Monat anhält, und sie darf nicht noch länger dauern.
Das humanitäre Völkerrecht ist das umfassendste und pragmatischste Werkzeug, das wir haben, um den Schutz der Zivilbevölkerung sicherzustellen und den Weg hin zu einer Deeskalation zu ebnen.
Ich rufe die internationale Gemeinschaft dringend auf, für seine vollständige Umsetzung zu sorgen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
Das Gebot der Stunde ist es, Leben zu retten und die Menschlichkeit zu wahren. Ein schneller und dauerhafter humanitärer Zugang und Hilfsgüter sind dringend nötig.
Kritische Dienstleistungen wie die Gesundheits-, Wasser- und Stromversorgung sowie die Kommunikation in Gaza müssen unverzüglich wiederhergestellt werden – dies ist eine lebenswichtige Priorität.
Das IKRK hat mehr als 100 Mitarbeitende in Gaza, die ihrer Arbeit inmitten der Gewalt weiterhin nachgehen. Wir haben lebensrettende Hilfsgüter für eine Lieferung vorbereitet und jüngst über den Grenzübergang von Rafah medizinische Güter und ein neues Team aus Expertinnen und Experten für chirurgische Eingriffe und Waffenräumung geschickt.
Doch die Vorräte gehen zu Ende, und unseren Chirurginnen und Chirurgen fehlt es bereits an Anästhetika und sogar an Gaze, um Opfer mit Verbrennungen zu behandeln.
Wir sind bereit, angesichts der immensen Bedürfnisse unseren Einsatz schnell auszuweiten, aber wir müssen in der Lage sein, regelmässig grosse Mengen an Vorräten einzuführen und wir brauchen den erforderlichen Zugang und Sicherheitsgarantien.
Das IKRK unterstützt mit seiner Arbeit die Menschen in Gaza, im Westjordanland und in Israel, unter anderem über seine Partner, den Palästinensischen Roten Halbmond, den Magen David Adom und andere Mitglieder der Bewegung wie der Ägyptische Rote Halbmond, im Rahmen ihrer grundlegenden Notfalldienste.
Die humanitären Mitarbeitenden in Gaza und in Israel zeigen unglaublichen Mut und grossen Einsatz.
Wie wir gehört haben, kamen tragischerweise Ärztinnen und Ärzte des Magen David Adom und des Palästinensischen Roten Halbmonds sowie Hilfswerksmitarbeitende der UN und anderer Organisationen ums Leben, während sie versuchten, anderen zu helfen. Diese Menschen möchte ich an dieser Stelle würdigen, und ich rufe dazu auf, dringend alle Zivilpersonen zu schützen, einschliesslich humanitäres und medizinisches Personal sowie Spitäler, im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht.
Unsere Rolle als neutraler Vermittler hat sich als nützlich erwiesen, um humanitäre Bedürfnisse zu decken. Durch seinen Dialog mit den Parteien konnte das IKRK in kritischen Momenten praktische Unterstützung anbieten.
Am Montag begleiteten wir Ambulanzfahrzeuge beim Transport von Patientinnen und Patienten, die dringende medizinische Versorgung benötigten, vom Schifa-Spital in Gaza-Stadt zum Grenzübergang von Rafah. Als neutraler, vertrauenswürdiger Akteur unterstützte das IKRK ausserdem zwei Aktionen zur Freilassung von Geiseln. Wir rufen weiterhin zur unverzüglichen Freilassung der verbleibenden Geiseln auf, und wir sind bereit, weitere Freilassungen zu unterstützen und auch die Geiseln zu besuchen.
Aber:
Die humanitäre Hilfe darf angesichts des Scheiterns, das Leben der Zivilbevölkerung zu schützen, nicht als Feigenblatt dienen.
Die Hauptverantwortung für den Schutz der Opfer des Krieges liegt bei den Konfliktparteien.
Dieser Schutz muss auf alle Zivilpersonen ausgeweitet werden, einschliesslich derjenigen, die sich noch in Gaza-Stadt aufhalten. Es ist kaum vorstellbar, dass sich keinerlei Zivilpersonen mehr im Norden aufhalten, und nicht alle Gebäude dürfen als militärische Ziele gesehen werden. Die Vorbereitungen für die Rückkehr der Hunderttausenden vertriebenen Familien in den Norden müssen dringend eingeleitet werden. Wenn das humanitäre Völkerrecht jetzt eingehalten wird, wird dies umfassende und positive Auswirkungen haben.
Im Westjordanland eskaliert die tödliche Gewalt gegen Zivilpersonen weiter: Diese Menschen dürfen nicht vergessen gehen; und für ihre Bedürfnisse und ihr Schutz muss etwas unternommen werden.
Ohne unverzügliche Zurückhaltung auf beiden Seiten steuern wir auf eine noch grössere humanitäre Katastrophe und einen nie endenden Teufelskreis der Gewalt zu.
Wir dürfen nicht zulassen, dass die Feindseligkeit so absolut ist, dass die andere Seite entmenschlicht wird.
Mit jedem Tag, der vergeht, schwindet die Möglichkeit weiter, einen Weg zurück zum Dialog und zu einer politischen Lösung zu finden.
Wir müssen versuchen, nicht nur das menschliche Leid zu reduzieren, sondern auch einen minimalen Raum zu bewahren, innerhalb dessen es möglich ist, sich auf etwas zu einigen, das nicht durch militärische Mittel, sondern durch politische Diskussionen erreicht wird.
Ich rufe die Staaten dringend auf, ihren Einfluss zu nutzen, um sicherzustellen, dass das humanitäre Völkerrecht vollständig eingehalten und umgesetzt wird.
Die Genfer Abkommen sind pragmatisch:
- Das Töten von Zivilpersonen und Misshandlungen sind verboten.
- Verwundete und Kranke müssen versorgt, geachtet und geschützt werden.
- Inhaftierte Personen müssen menschlich und mit Würde behandelt werden.
- Geiselnahmen sind verboten, und Geiseln sollten unverzüglich und unbeschadet freigelassen werden.
- Die zivile Infrastruktur, von der die Bevölkerung für ihr Leben abhängig ist – inklusive Stromnetze und Wasserversorgung – muss verschont werden.
- Ungeachtet einer militärischen Belagerung müssen die Parteien dafür sorgen, dass die Zivilbevölkerung Zugang zu grundlegenden Gütern und Dienstleistungen, einschliesslich medizinischer Versorgung, hat.
Wir stehen vor einem katastrophalen moralischen Scheitern – einem Scheitern, das die Welt nicht zulassen darf.
Ich rufe Sie dringend zu konkreten politischen Schritten auf, um einen dauerhaften humanitären Raum zu sichern, die besondere Rolle von neutralen Akteuren wie dem IKRK zu schützen, angemessene Mittel bereitzustellen und auf die praktische Umsetzung des humanitären Völkerrechts zu drängen.
Quelle: IKRK
https://www.icrc.org/de/document/gaza-konferenz-ikrk-praesidentin-spoljaric-zivilpersonen-muessen-geschuetzt-und-geiseln-unbeschadet-freigelassen-werden