Der Schutz des Lebens ungeborener, behinderter und sterbender Menschen soll ausdrücklich in das Grundgesetz aufgenommen werden. Dies wurde öffentlich vorgeschlagen. Der Vorschlag ist gut gemeint. Daß er gemacht wird, ist dennoch erschreckend. Er zeigt nämlich, daß das Menschsein der genannten Gruppen nicht mehr selbstverständlich und ihr Grundrecht auf Leben deshalb gefährdet ist. Behinderte und Sterbende werden mit Ungeborenen auf eine Stufe gestellt, ohne daß zugleich der gesetzliche Schutz der Ungeborenen massiv verbessert würde. Was bedeutet das?
Wird es künftig Gremien geben, die über lebenswertes und lebensunwertes Leben befinden? Wird es künftig ein Indikationsmodell für Pflegebedürftige geben? Wird künftig ihr Recht auf Leben abgewogen werden gegen das Interesse derer, die physisch und materiell die Last der Pflege zu tragen haben – eine Last, die weit schwerer wiegen kann als die einer ungewollten Schwangerschaft? Werden die Kirchen Konfliktberatungesstellen nach dem Muster der bereits bestehenden einrichten, deren Konsultationsbescheinigung straffreie Tötung ermöglicht?
- Diese Fragen sind leider nicht theoretisch. Fünfzig Jahre nach Hitlers Mordprogramm hat die Kampagne für Euthanasie in unserem Land wieder begonnen. Verschiedene reale Faktoren bilden den Hintergrund: Die anormale Alterstruktur unserer Gesellschaft, der Pflegenotstand, die wachsenden Pflegekosten, die extremen medizinisch-technischen Möglichkeiten der Lebensverlängerung. Die Einstiegsdroge auf dem Weg in die Euthanasiegesellschaft ist die sogenannte «Tötung auf Verlangen». Sie wird bereits institutionell organisiert und stößt auf eine gewisse öffentliche Akzeptanz. Angeblich führt keinerlei schiefe Ebene von der Tötung «auf Verlangen» des Opfers zu Tötung gegen den Willen des Opfers – zur Tötung von Menschen also, deren Leben nicht ihnen selbst, sondern der Gesellschaft als «lebensunwert» erscheint. Das ist eine katastrophale Illusion. Die Nationalsozialisten wußten sehr wohl, warum sie die massenhafte Ermordung geistig Behinderter psychologisch vorbereiteten durch den Film «Ich klage an», einen Film, der Sympathie wecken sollte für eine Mitleidstötung auf Verlangen. Als Mitleidstötung deklariert waren auch die Morde der Wiener Krankenschwestern an lästigen Alten. Im übrigen: Ist die Tötung auf Verlangen erst einmal legalisiert und gesellschaftlich akzeptiert, dann hat auch der, der nicht freiwillig aus dem Leben geht, die Last selbst zu verantworten, die sein Leben für andere bedeutet. Es wird sehr bald zur gesellschaftlichen Pflicht jedes dauerhaft Pflegebedürftigen, die Umwelt von der Last seiner Pflege zu befreien, indem er um die Tötung ersucht. Unter solchen Umständen mag dann wirklich das Leben für sensible Kranke unerträglich werden. Ob das Leben Behinderter, die solche Wünsche nicht äußern können oder wollen, lebenswert ist oder nicht, darüber befindet dann die interessierte Mitwelt. In einer hedonistischen Gesellschaft heißt dies: Wo Leid nicht beseitigt werden kann, wird der Leidende beseitigt. Schon jetzt hat die jeder schwangeren Frau unaufgefordert angediente vorgeburtliche Diagnostik dazu geführt, daß die Existenz junger Behinderter als Unfall betrachtet wird, den die Eltern zu verantworten haben.
- Hier schließt sich der Kreis: Was zu Anfang als «Recht auf den eigenen Tod» eingeklagt wurde, wird schließlich zur «Pflicht zum Tod». Das «Recht zu töten» — und zwar auch diejenigen, die dieser Pflicht nicht nachkommen, ist der absehbare dritte Schritt. Der wichtigste gegenwärtige Propagator der Euthanasie, Peter Singer, will konsequenterweise auch das Lebensrecht aller Kinder in den ersten Lebensmonaten aufheben und deren Leben zur Disposition ihrer Eltern stellen. Sie seien zwar Menschen, aber nicht alle Menschen seien Personen, sondern nur solche, die tatsächlich über Selbstbewußtsein und Rationalität verfügen. Behindertengruppen haben Singer am öffentlichen Reden gehindert. Mit Recht. In philosophischen Seminaren muß die Freiheit der Wissenschaft auch die Freiheit der Diskussion mörderischer Thesen einschließen. Aber deren öffentliche Propagierung ist etwas anderes. Denn hierbei handelt es sich nicht um Personen in abstracto, sondern um unsere Kinder, Mütter, Väter und Großeltern. Und hier wird nicht eine Theorie geprüft, sondern zum Handeln aufgefordert. Die freie Gesellschaft verliert ihre Freiheit, wenn sie zuläßt, daß Menschen den Personenstatus anderer Menschen öffentlich in Frage stellen. Das Grundgesetz unseres Landes kennt die Unterscheidung von Menschen und Personen nicht. Da es voraussetzt, daß jeder Mensch Person ist, spricht es nur von Menschenrechten.
Das Bundesverfassungsgericht hat das ausdrücklich gemacht: «Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Würde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewußt ist und sie selber zu wahren weiß.» (BVG 39,2 ff (41)) Dabei muß es bleiben. Nur wenn die billige und bequeme Möglichkeit der Euthanasie gänzlich außer Betracht bleibt, können menschliche Kräfte mobilisiert und soziale Phantasie geweckt werden. Nur dann werden menschliche Antworten gefunden auf die Frage des Altwerdens, der Pflegebedürftigkeit, der Behinderung und des unheilbaren Krankseins in unserer Gesellschaft. In besonderer Weise konfrontiert mit dieser Situation ist der Arzt. Das ärztliche Berufsethos steht und fällt damit, daß der Arzt keine andere Aufgabe übernimmt als den Dienst am Leben. Ihn zum Herrn über Leben und Tod machen zu wollen heißt, das ärztliche Berufsethos von Grund auf korrumpieren. Allerdings ist ein neues Nachdenken über die Grenzen der ärztlichen Behandlungspflicht geboten. Es ist nicht human, jeden Menschen, dessen Organismus definitiv versagt und mit dem es zu Ende geht, mit allen Mitteln zum Leben zu zwingen. Menschen haben eine Recht darauf, daß man sie menschenwürdig sterben läßt. Absichtliche Tötung aber, gewaltsame Beendigung des Lebens, also die sogenannte «aktive Sterbehilfe», rührt an die Grundlagen der Menschlichkeit in unserer Kultur. Sie darf in keiner Form zu einer legalen Möglichkeit werden.
zitiert nach: Theologisches, Jahrgang 21, Oktober 1991, S. 522