Münchner Erklärung 2024 des D-A-CH-Forums Suizidprävention und assistierter Suizid
Anschließend an die Schloss-Hofener Thesen von 2023 erklären die Teilnehmenden des Expert*innen-Workshops Suizidprävention und Assistierter Suizid in München 2024:
1. Mensch in der Krise
Der Mensch, der um assistierten Suizid ansucht, ist ein Mensch in der Krise.
- Er hat das Recht, als Mensch in seinem körperlichen, psychischen und existentiellen Leiden wahrgenommen zu werden.
- Die rein normative Beurteilung des Begehrens nach Suizidassistenz als „Recht“ wird der Leidensrealität nicht gerecht.
- Auch An- und Zugehörige, die von assistierten Suiziden betroffen sind, sollen die Möglichkeit zur Unterstützung bekommen.
2. Gewissen und Verantwortung
Eine absolut gesetzte und nicht hinterfragte Autonomievorstellung des Individuums darf das Prinzip der Suizidprävention, des Schutzes des menschlichen Lebens und der Fürsorge nicht außer Kraft setzen. Jeder, der einem suizidalen Menschen begegnet, hat die Verantwortung, ihm/ihr mitmenschliche und gegebenenfalls fachliche Unterstützung zum Leben anzubieten. Die grundlegende Erkenntnis der Suizidforschung, dass suizidale Menschen im Allgemeinen nicht sterben, sondern „so“ nicht mehr leben wollen, muss Richtschnur werden im Umgang mit Menschen mit Verlangen nach assistiertem Suizid.
- Priorität haben Selbstreflexion, Prüfung des eigenen Gewissens und der Verzicht auf ein Urteil darüber, ob das Leben des anderen (noch) lebenswert ist. Unverzichtbar ist größtmögliche Sorgfalt, alternative Lösungsmöglichkeiten zu suchen.
- Die Gewissensentscheidung, nicht beim assistierten Suizid mitzuwirken, muss immer geachtet werden und auch den Mitarbeitenden in Institutionen möglich sein.
3. Umgang mit dem Verlangen nach assistiertem Suizid in professionellen Beziehungen
Menschen, die in ihrer beruflichen Tätigkeit mit Verlangen nach assistiertem Suizid zu tun haben, sollten sich des Einflusses von Übertragung und Gegenübertragung bewusst sein und um den Einfluss unbewusster Gefühle wissen.
- Eigene Gefühle wie Überforderung, Mitleiden und Identifikation müssen kritisch reflektiert werden. Dazu bedarf es der Super- und Intervision.
- Das Verlangen nach assistiertem Suizid ist nicht als Handlungsauftrag zur Suizidassistenz zu verstehen, sondern als Aufforderung, sich in die Situation des Gegenübers einzufühlen und darüber ergebnisoffen zu sprechen.
- Insbesondere der Umgang mit den verschiedenen vulnerablen Gruppen bedarf eines jeweils spezifischen Fachwissens und des Bewusstseins, dass Autonomie immer relativ und relational zu verstehen ist.
- Wie grundsätzlich bei suizidalen Menschen muss auch bei Verlangen nach assistiertem Suizid vorrangig eine von Personen und Institutionen der Suizidassistenz unabhängige fachliche Beratung und je nach Situation auch Therapie ermöglicht werden.
4. Forderungen an Institutionen
- Alle Institutionen des Gesundheits- und Sozialwesens müssen Lebensräume bleiben, in denen keinerlei Druck in Richtung assistiertem Suizid ausgeübt wird.
- Die Institutionen sollen suizidpräventive Konzepte entwickeln und umsetzen.
- Institutionen haben die Verpflichtung, ihre Mitarbeitenden im Umgang mit Suizid- und Todeswünschen und in Suizidprävention zu schulen.
- Niemand darf genötigt oder gezwungen werden, sich an einem assistierten Suizid zu beteiligen. Auch dürfen aus der Weigerung sich zu beteiligen keine Nachteile entstehen.
- Werbung und Verleitung zum assistierten Suizid in Institutionen sollen unterbunden werden.
5. Befähigung der Mitarbeitenden von Institutionen zur Suizidprävention
- Allen im Berufsalltag mit Wünschen nach assistiertem Suizid befassten Personen sollen qualifizierte Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten im Umgang mit Suizid- und Todeswünschen und zur Suizidprävention zur Verfügung stehen. Sie sollen Ergebnisse der Suizidforschung kennen.
- Dazu gehört auch Supervision im Berufsalltag.
6. Verantwortung der Medien
Die Medien haben Einfluss auf die Haltung zum assistierten Suizid in der Gesellschaft. Vieles spricht dafür, dass der „Werther-Effekt“ auch für den assistierten Suizid gilt.
- Medien sollen auf bestehende Empfehlungen zur medialen Darstellung der Suizidalität, des Suizids und des assistierten Suizids aufmerksam gemacht werden. Empfehlungen sollen gemeinsam mit Medienschaffenden, Forschenden und Experten der Suizidprävention weiterentwickelt und angepasst werden. Medienkampagnen, Informationsveranstaltungen und Workshops sollen hierzu durchgeführt werden.
7. Verantwortung von Staat und Gesellschaft
Kein Mensch soll durch gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Druck zum assistierten Suizid gedrängt werden. Der Staat hat die Pflicht, Suizidprävention zu fördern, auszubauen und gesetzlich zu verankern.
- Es ist unsere Aufgabe, einem Mitmenschen, der sein Leben als unwürdig empfindet, seine unveräußerliche Würde erfahrbar zu machen. Wenn keine Heilung möglich ist, geht es um die bestmögliche Linderung der Beschwerden, Begleitung und Trost. Dies vermittelt die Sicherheit, dass Menschen auch in Alter und Krankheit Fürsorge, gute Pflege und medizinische Versorgung bis zuletzt zuteil wird.
- Eine gesellschaftliche Umorientierung ist nötig. Sie muss eine Stärkung der Solidarität, Sorge und Fürsorge im Blick haben und auf eine lebenszugewandte, friedliche und lebensfreundliche Gesellschaft ausgerichtet sein.
Wir alle sind aufgefordert, uns dieser Fragen anzunehmen und im beruflichen oder gesellschaftlichen Umfeld Antworten zu entwickeln.
D-A-CH-Forum Suizidprävention und assistierter Suizid, München, 9. Juni 2024
Münchner Erklärung 2024 D-A-CH-Forum Suizidprävention und assistierter Suizid
Für das D-A-CH-Forum Suizidprävention und assistierter Suizid:
Bausewein Claudia, Prof. Dr. med., PhD MSc, Fachärztin für Innere Medizin, Direktorin der Klinik und Poli- klinik für Palliativmedizin, LMU Klinikum München, Erk Christian, PD Dr. phil., Programmleiter an der Executive School der Universität St.Gallen (HSG), Privatdozent für Ethik und Management, Fiedler Georg, Dipl.-Psychologe, Geschäftsführer der Deutschen Akademie für Suizidprävention, Hamburg, Feichtner Angelika, MSc (palliative Care), Österreichische Palliativgesellschaft (OPG), Wien, Gabl Christoph, Dr.MSc, Mobiles Palliativteam Innsbruck + Insbruck Land, Tiroler Hospiz-Gemeinschaft, Haberland Birgit, Dr. med. MSc, Oberärztin der Klinik und Poliklinik für Palliativmedizin, Palliativ Ambulanz, LMU Klinikum München, Jentschke Elisabeth, Dr. phil., Comprehensive Cancer Center, Universitätsklinikum Würzburg, Kautz Heike, M.Sc.N, B.Sc.N, Pflegefachperson für Palliative Care, Palliative Geriatrie und Geronto- psychiatrie, Lehrpersonal am Bildungs- und Forschungsinstitut des GK-Mittelrhein in Koblenz, Kapitany Thomas, Prim. Dr. med., Leiter des Kriseninterventionszentrums Wien, Kessler Eva-Marie, Prof. Dr. habil., Prorektorin für Interdisziplinarität und Wissenstransfer, Professorin für Gerontopsychologie, MSB Medical School Berlin – Hochschule für Gesundheit und Medizin, Universitäres Department Psychologie, Klesse Raimund, Dr. med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Chur, König Katharina, Dr. phil., Dipl.-Ing., Wissenschaftliche Mitarbeiterin Werner-Felber-Institut e.V., Kränzle Susanne, MAS Palliative Care, Gesamtleitung Hospiz Esslingen, stellv. Vorsitzende des DHPV e. V., Kummer, Susanne, Mag., Direktorin des Instituts für Medizinische Anthropologie und Bioethik, Wien, Lewitzka Ute, PD Dr. med. habil., Universitätsklinikum Carl Gustav Carus in Dresden, Susanne Ley, Dr. med., Fachärztin für Innere Medizin und Rheumatologie, St. Elisabeth-Hospital Meerbusch-Lank, Fachklinik für Orthopädie und Rheumatologie, Ley Wolfgang, Diplom-Sozialarbeiter (FH), Köln, Lindner Reinhard, Prof. Dr. med., Institut für Sozialwesen des Fachbereichs Humanwissenschaften der Universität Kassel, Lippmann-Rieder Susanne, Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie (FMH), Uetikon a. See, Lorenzl Stefan, Prof. Dr. med. Dipl. Pall. Med., Institut für Palliative Care, Paracelsus Medizinische Privatuniversität, Salzburg, Meischner-Al-Mousawi Maja, Dr., Psychologische Psychotherapeutin (VT), Mitarbeiterin des Kriminologischen Dienstes, Leiterin der LAG und der BAG „Suizidprävention im Justizvollzug“, Justizvollzugsanstalt Leipzig, Nauck Friedemann, Prof. Dr., ehem. Direktor Klinik für Palliativmedizin, Georg-August-Universität Göttingen, Nestor Karen, Dr. med., Chefärztin Onkologie und Stv. Departementsleiterin Innere Medizin, Klink Gais, Nestor Moritz, M.A. & lic.phil., Philosoph und Psychotherapeut, Schurten, Niederkrotenthaler, Thomas. assoz. Prof. Dr. med. univ. PhD. MMSC, Sozialmediziner, Leiter der Forschungsgruppe Suizidprävention, Abteilung für Sozial-und Präventivmedizin, Zentrum für Public Health, Medizinische Universität Wien, Pfisterer Mathias H.-D., PD Dr. med., Klinik für Geriatrische Medizin und Zentrum für Palliativmedizin, Agaplesion Elisabethstift Darmstadt, Petzold Christian, Dipl.-Pflegewirt, Bundesärztekammer, Prajczer Sinikka, Dr. PhD, Tiroler Hospizgemeinschaft, Rados Christa, Dr. med., Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, Fachliche Leitung des psychosozialen Therapiezentrums Kärnten, Reigber Hermann, Dipl.-Theol., Dipl. Pflegewirt, Geschäftsführende Leitung Christophorus Akademie, LMU München, Reuster Thomas, PD Dr.med.habil. M.A., Institut für Geschichte der Medizin, Med. Fakultät Carl Gustav Carus der TU Dresden, Sasserath-Alberti Natascha, Dr., Kommissariat der Deutschen Bischöfe – Katholisches Büro in Berlin, Scheiner Ricarda, Psychologin M.Sc., Fachpsychologin Palliative Care (BDP-DGP), LMU Klinikum München, Schneider Barbara, Prof. Dr. med., M.Sc., MBHA, Chefärztin an der LVR-Klinik Köln, Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen, Psychiatrie und Psychotherapie, Schwaiger Karl, Mag., Obmann der Hospizbewegung Salzburg, Verein für Lebensbegleitung und Sterbebeistand, Sperling Uwe, Dr., Diplomgerontologe, Universitätsmedizin Mannheim, Geriatrisches Zentrum, Sitte Thomas, Dr. med., Vorstandsvorsitzender, Deutsche Palliativ Stiftung, Teising Martin, Prof. Dr. med., Facharzt für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psycho- analytiker, Bad Hersfeld, Trufin François, Pflegedienstleiter, Belgien, Turiaux Julian, M.Sc. Psych., Psych. Psychotherapeut, München, Voltz Raymond, Prof. Dr. med., Dipl. Pall. Med. (Cardiff), Facharzt für Neurologie, Direktor des Zentrums für Palliativmedizin an der Universitätsklinik Köln, Wagner Birgit, Prof. Dr. habil., Professur für Klinische Psychologie & Psychotherapie – Verhaltenstherapie, Medical School Berlin, Wolfersdorf Manfred, Prof. Dr. med. Dr. hc., Universität Bayreuth, ehem. Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhaus Bayreuth, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie und Psychosomatik